Presse­berichte


 

8.8.2023

Künstlerstadt: Von London in die Altmark

Internationale Kulturschaffende öffnen ihre Ateliers in Kalbe/Milde und erzählen vom Sommercampus

Von Grit Warnat

 

von london 1024

Raumgreifend ist die Installation des Italieners Vincenco Marrese, die er beim Atelierrundgang vorstellte. Marrese wurde am Sonnabend als Sommercampus-Stipendiat verabschiedet.

 

 

Vor zehn Jahren gründete sich in Kalbe/Milde der Künstlerstadt-Verein. Seitdem bewerben sich Stipendiaten aus aller Welt zum alljährlichen Sommercampus. Die Logis ist frei, das Arbeiten auch. Was treibt Künstler in die weite Altmark? Eindrücke von einem Atelierrundgang.

 

 

Kalbe/Milde ● Ein großer Bottich steht im Atelier von Johanna Hehemann. Er ist zur Hälfte gefüllt mit Blättern. Sie liegen in einem Glycerin-Bad und warten auf ihre Verarbeitung. Die junge Frau nimmt ein Walnussblatt in die Hand, geschmeidig ist es wie gerade eingecremte Haut. Wie sie diese Blätter verarbeitet, ist an den Wänden zu sehen, auch in den Rahmen im Fenster, in denen das Sonnenlicht das Material mit Licht durchflutet.
Johanna Hehemann ist Modedesignerin. Würde sie nur von ihren künstlerischen Intentionen erzählen, wäre die Vorstellungskraft schnell aufgebraucht. Ein Mantel aus Kiefernnadeln, ein Leibchen aus Blättern, die Hose aus einer abgeschnittener Zypressen-Hecke. Für jene Atelier-Rundgangsgäste, die bei ihrem Erzählen die Stirn runzeln, schlägt sie ihr Tablet auf und zeigt stolz die professionellen Fotografien mit Models, die in Hehemanns Kleidung wie eins sind mit der Natur. Es ist ihre Abschlussarbeit.
Hehemann, aufgewachsen bei Bielefeld, hat in London an der University of the Arts studiert. Seit einer Woche ist sie Stipendiatin in Kalbe. Wie kommt man von der britischen Insel in die Altmark? In einem Newsletter habe sie vom Campus in Sachsen-Anhalt gelesen, erzählt sie. Sachsen-Anhalt sagte ihr nichts, die Campus-Idee fand sie hochinteressant. Ihrer Bewerbung folgten die Zusage und die Einladung ins Städtchen an der schmalen Milde. Die junge Künstlerin spricht von einem Volltreffer.
Hehemann gehört zu insgesamt 26 Stipendiaten aus 15 Nationen, die den Sommercampus mit ihren Ideen und mit Leben füllen. Einige bleiben zwei Wochen, einige auch länger. Das Kommen und Gehen bedeutet auch immer neue Gesichter, neue künstlerische Handschriften, neuer Austausch, neue Kulturen. Indien ist jetzt vertreten, China, Armenien, Italien, Kroatien, Chile. Lu Cheng stammt aus Shanghai. „Das Umfeld hier hat mich sehr inspiriert", sagt sie und zeigt sich traurig, dass ihr zweiwöchiger Aufenthalt beendet ist.
links
Kunst im Fenster: Die Rahmen mit den Blättern stammen von der Modedesignerin Johanna Hehemann. Fotos (4), Grit Warnat
mitte
Johanna Hehemann zeigt auf dem Tablet ihre Abschlussarbeit
rechts
Daria Pauke im Gespräch mit einer Besucherin. Die 22-jährige zeichnet eine Graphic-Novel. Die Geschichte schreibt sie selbst.

 

corinna
"Mit den Bewerbungen für den Sommercampus haben wir einen Quatensprung erlebt."
Corinna Köbele, Initiatorin des Vereins Künstlerstadt Kalbe/Milde
Sie hat sich mit der Architektur von Kalbe beschäftigt, die sich unter anderem in einer Tapetencollage wiederfindet. Corinna Köbele, die vor zehn Jahren die Künstlerstadt initiierte, auch um Leerstand und Wegzug entgegenzuwirken, lud mit dem 2013 gegründeten Verein in jenem Jahr erstmals zu einem Sommercampus ein. Die ersten Künstler regten sogleich einen Wintercampus an, auf den sich der Verein auch einließ. Köbele erinnert sich gut an die Probleme allein des Heizens wegen. Die Künstlerstadt zieht schließlich in Leerstand. Vieles hat sich verändert in diesem einen Jahrzehnt. 17 Häuser und Grundstücke bespielt der 156 Mitglieder zählende Verein heute, vier gehören ihm. Neben all der Kunst und Kultur gehört die Bürokratie rund um Fördermittel und Vollzeitkräfte seit jeher zum Tagesgeschäft. Mit jedem Baufortschritt wie am ehemaligen Gerichtsgebäude, dem heutigen Atelierhaus mit seinem maroden Charme, ist der Verein auf Fördergelder und Sponsoren angewiesen. Es ist schon viel erreicht, aber der Kampf ums Geld, so sagt Köbele, wird aufwendiger, auch weil EU-Förderung ausgelaufen ist. Für andere Vorhaben wie die Sanierung des ehemaligen Dienstleistungsbetriebes fehlt Geld. Das Haus ist verfallen. Anwohner beschweren sich, weil ihre angrenzenden Nachbarhäuser in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Haus hat der Verein 2016 erworben, wie auch den jetzt fertig sanierten KuLturhof in direkter Nachbarschaft zur Nikolaikirche, ein höchst ambitioniertes Projekt für einen Verein. Die „Trabi-Bude", eine alte Autowerkstatt, ist Anlaufpunkt für Künstler und Gäste. Für dieses Belebungs-Engagement gab es schon jede Menge Preise. „Mit den Bewerbungen für den Sommercampus haben wir einen Quantensprung erlebt", freut sich Köbele und bezieht
lu
„Das Umfeld hier hat mich sehr inspiriert."
Lu Cheng, Künstlerin aus dem chinesischen Shanghai, studiert an der Akademie der bildenden Künste München.
das auf die Menge der Anfragen wie auch auf die Qualität. Der Verein unter ihrer Ägide kuratiert. Sie lässt sich keine Zahl zu den Bewerbungen entlocken, erzählt aber von der immensen Zeit für das Kuratieren. „Wir freuen uns, dass sich unsere Idee in die Welt trägt", sagt die Psychotherapeutin und Hobby-Malerin und erzählt, dass im vergangenen Winter mit Abdus Saalam aus Südafrika der erste Künstler vom afrikanischen Kontinent nach Kalbe fand. Jetzt gab es Bewerbungen aus Ghana, der Elfenbeinküste, Marokko, Tunesien. Aber die Kosten für Flüge und Visa seien von den Künstlern kaum stemmbar, sagt Köbele, die froh ist, dass die Stiftung Zukunft Altmark zu den treuen Unterstützern zählt. 456 Künstler hätten in den zehn Jahren in Kalbe auf Zeit gelebt und gearbeitet. Dem Austausch, das wird in den Gesprächen beim Atelierrundgang deutlich, wird seitens der Stipendiaten viel Stellenwert beigemessen. Weil Künstler erst an der Uni in der eigenen Genre-Blase leben, dann in ihrer Arbeitswelt meist Einzelkämpfer sind. In der Künstlerstadt hingegen ist Interaktion gefragt, Paten kümmern sich um die Künstler. Der Verein bietet an 200 Tagen Veranstaltungen an. Es gibt Konzerte, Lesungen, Ausstellungen. Köbele sagt: „Wir sind hier kein Elfenbeinturm. Kunst gehört mitten ins Leben." Verlässt man Kalbe, die Stadt der 100 Brücken und der zeitgenössischen Kunst, ist man in Gedanken bei Joseph Beuys (1921-1986) und der Theorie der Sozialen Plastik, eines freiheitlichen Zusammenlebens der Menschen mit Natur und Kosmos. Eine Plastik wird von innen nach außen geformt, verändert sich und wächst. So wie die Künstlerstadt.

 

© Volksstimme, 8.8.2023, S.3